Nach einem beeindruckenden 90er/2000er Jahre Werdegang mit vielen Hits, wurde es nach dem letzten Album, „Evanesence“ von 2011, still um die Band.
Amy Lee fokussierte sich auf ihr Dasein, einem gemeinsamen Leben mit Ehemann und Kind, sowie der Selbstreflexion, der inneren Heilung und ihren Visionen. Denn die reichlichen, außergewöhnlichen sowie ausgezeichneten, wie auch bescheidenen und ausgezehrten Eindrücke, müssen auch be-und verarbeitet werden. Beispielsweise als Frau inmitten einer männerdominierenden Welt einsam zu sein. Ebenso trotz des Frontfrauen-Dasein klein gehalten und mit „Titten Raus“-Zurufen aus dem Publikum heraus konfrontiert, oder „…auf dem „Fallen“ Albumcover habe ich mir einen runtergeholt…“- Gegebenheiten fertig zu werden.
Auch wenn ein Durchbruch wünschenswert ist, setzen sich Musiker:innen mit Gegebenheiten auseinander, die nicht einfach sind. Wahrscheinlich müssen sie diese so hinnehmen, wie sie sind. Das Musikbusiness schein nicht einfach zu sein (– habe ich gehört und mehrfach gelesen). Und im heutigen Social Media Life/Style, bestehend aus Filtern, Shitstorm und „Followerzahlen“, die in einer sehr schnellen Smartphonerie-Zeit stattfindet, kann dies überfordernd sein. Dazu wäre es ratsam nicht den Blick aufs Wesentliche zu verlieren. – Abstand ist mitunter notwendig. Zudem wollte die Band nicht nur ein Produkt veröffentlichen, sondern eines mit Herzblut.
Nichtdestotrotz widmete sich Amy Lee anderen Projekten und erfüllte sich einen Traum. Einem Traum, indem sie all ihren Hits eine neue Ausstrahlung schenkte und diese in ein orchestrales Gewand kleidete. Mit der Neuinterpretation sind ihr Schmetterlingsflügel gewachsen. Ferner folgte eine beeindruckende Tour.
Doch im Jahre 2018 zogen erneut dunkle Wolken über sie: Sie trug ihren Bruder zu Grabe. Es kam auch ein Umzug hinzu, der aus ihrer geliebten Wahlheimat hinausführte, um näher bei der Familie zu sein. Und dann rückte die unvorhersehbare und sehr anstrengende Pandemie näher … All das, und noch vieles mehr, waren Gründe für die jahrelange Abstinenz, um ein neues und dazu eigenständiges Album zu produzieren.
Doch nun sind sie mit einem neuen Album zurück!
Evanescence haben eine weitere Ära ihres musikalischen Lebensabschnitts erreicht. Mit „The Bitter Truth“ veröffentlichten sie ein Album voller Wut mit enormer Kraft. Aber auch ein „Glas gegen die Wand schmeißendes und Spiegel zerbrechendes“ – emotionales Werk, indem es um die Zerrissenheit und das Wiederzusammenflicken geht, ebenso um die Wahrheit und das Aufstehen. Das Album ruft ins Leben und gibt dem Überleben eine Schönheit zurück.
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Das Artwork zeigt wie eine bittere Pille geschluckt wird. Der aufgedruckte Smiley stellt das Symbol der Verzweiflung dar. Der titelgebende Albumname beruht auf den Songtext von „Wasted On You“: „…I’m wasted on you. Just pass me the bitter truth…“
Kaum jemanden schmeckt die bittere Wahrheit, aber sie muss geschluckt werden. Doch gibt es ein wundervolles Präparat, welches wir gerne einnehmen, einsaugen, inhalieren und schlucken: die Musik. Das dachte sich auch Amy Lee und nutzte das Pandemieleiden als Inspiration und schuf zusammen mit ihrer Band ein neues Werk mit wertvollem Inhalt und dem gewünschten Herzblut.
Der Auftakt zu diesem langersehnten Comeback ertönt durch ein zierliches „Artifact /The Turn“. Es erinnert an eine schwach Lamentierende, die an einer Wiege steht, die mit dem schlafenden Kind spricht. Oder: vor dem eigenen Spiegelbild steht und sich dabei am Waschbecken festhält. Oder: in der Ecke eines Raumes kauernd und gedankenversunken vor sich hinredend. Der Fantasie sind hierbei keine Grenzen gesetzt.
Doch dann, mit einem 3…2…1…Zero Countdown beginnend, ertönt „Broken Pieces Shine“ mit schlagenden Drums und zeternden Gitarrenriffs, die nackenhaarsträubend sind. Nun endlich wird nach einem bewegenden Intro die evanescence‘sche Kraft aufgefahren, das die typischen Strukturen wieder aufleben lässt, als ob sie nie weg gewesen wären. In „Broken Pieces Shine“ geht es um die innere Zerrissenheit, die gezeigt und zum Strahlen gebracht wird, was vorher vehement abgelehnt wurde. Zerbrochenes darf wieder strahlen, denn auch Schönheitsfehler haben Superkräfte.
Das wohl -für mich- beste und authentischste Pandemie-Video, welches bisweilen aus dem Musikbusiness publiziert wurde, ist mit „The Game Is Over“ erschienen. In dem Song schreit sich Amy bedenkenlos aus und durchbricht die Fassade, die vorher zu bröckeln verdammt war. Ein fulminanter Sound und den dazugehörigen zusammengeschnittenen Sequenzen stärkt ihr den Rücken. Es braucht kein Millionen-Dollar Video um aufzuzeigen, wie bescheiden es seit geraumer Zeit läuft und wie die Menschheit zu kämpfen hat.
„Wasted On You“ charakterisiert die Entfremdung der Umwelt, den Mangel an Kontrolle und die fehlende Sinnhaftigkeit des Daseins. Auch eine vertraute, sorgfältig gestaltete Umgebung kann auf einmal entfremdend wirken. Aus der Isolation heraus wurden mit Handys im eigenen Kreis Aufnahmen geschaffen, die situationsbedingt miteinander kongruieren, um ein ergreifendes Video zu erstellen.
Im achten Song „Use My Voice“ heißt es „Womenpower“! – Zusammen mit Deena Jakoub, Lzzy Hale, Carrie Lee, Lori Lee, Sharon den Adel, Lindsey Stirling, Taylor Momsen und Amy McLawhorn wurde aus Mut, Selbstvertrauen und Zielstrebigkeit ein musikalisches Attribut gezollt. In dem sturmreifen Glanzstück wollten die Frauen nicht mehr still sein, sondern ihre Stimmen erheben. Zum ersten Mal äußert sich Amy Lee zum politischen Zeitgeschehen, denn sonst zeigt sie sich stets bedeckt. Zu dem Song sagte sie: „Dies ist eine Ära des Erwachens, und voll kraftvoller Schönheit. Ich hoffe, andere zu inspirieren, die Wahrheit zu suchen, ihre eigene Stimme zu finden und sie zu benutzen, so wie ich aufstehe, um meine zu benutzen. Lasst niemanden für euch sprechen. Nur du kannst das tun.“
Amy Lee kann die besten, dazu noch so unglaublich traurige dunkel-romantische Klavierballaden von sich geben. Die beweist sie mit dem größten Gänsehautmoment auf diesem Meisterwerk, der gegebenfalls als Trauerverarbeitung dient. „Far From Heaven“ dürfte die Antwort auf „My Immortal“ sein. Doch schrieb sie mit diesem Song ihre tiefe Trauer von der Seele. Darin geht es um die Suche nach Antworten. Dieses Lied ist ein trauriger Blick auf die Entfremdung und die Hinterfragung des Glaubens; die Frage nach dem Warum, sowie dem eigenen Platz im Universum.
„Part of Me“ handelt davon, nicht am Boden liegen zu bleiben, den Glauben daran zu haben wieder aufzustehen. Ebenso den Entschluss zu fassen, die eigenständige innere Magie wieder aufleben zu lassen und trotz der erlittenen Verluste sich aufzuraffen, nach vorn zu schauen und weiterzumachen. Damit wäre die ausschlaggebende Message zu „The Bitter Truth“ von Evanescence besiegelt!
***Ich habe ihr „Ausschreien“ so vermisst! Dennoch frage ich mich, wie zerrissen sie sein musste, dass ihr erst durch Taylor Momsen und Lzzy Hale bewusst geworden ist, wie wertvoll ihre Songs sind. Also Amy, ich bin entsetzt!
Wertvoller Link:
- Homepage: www.evanescence.com