Marianne Faithfull ist eine lebende Legende, eine mit einem bewegten und sehr interessanten Leben. Die heute über 70jährige hat auch sehr viel zu erzählen. Ihre Interviews sind seit jeher informativ, ihre Bücher instruktiv und ihre Alben sprechen oft für sich allein. Jedoch wurden ihre Alben mit maskiertem, sich selbst versteckendem Hintergrund ausgeführt. Umso bedeutender, persönlicher und auch tiefgründiger wurde das einundzwanzigste Album von Marianne Faithfull, welches den Titel „Negative Capability“ trägt.
Der literarische Fachbegriff „Negative Capability“ bedeutet negative Fähigkeit und wurde vom englischen Dichter John Keats geprägt. Es bedeutet: „Die Fähigkeit zur Akzeptanz, dass nicht jeder komplexe Sachverhalt aufgeklärt werden kann!“ Diesen Begriff verwendete Keats im Jahre 1817 in einem Brief an seine Brüder: „Ich hatte kein Streitgespräch mit Dilke, sondern eine Untersuchung über verschiedene Themen; mehrere Dinge fügten sich in meinen Gedanken zusammen, und mit einem Mal wurde mir bewusst, welche Eigenschaft einen Mann großer Taten, besonders in der Literatur ausmacht, die Shakespeare in so außerordentlichem Maße besaß – ich spreche vom Negative Capability, dass ein Mensch also fähig ist, sich in einem Zustand voller Unsicherheiten, Geheimnissen und Zweifel zu befinden, ohne nervös nach Tatsachen und Vernunft umzusehen.“
Dieser Auszug, des Keats-Briefes an seine Brüder, kann das Album von Marianne Faithfull durchaus etikettieren, welches im November 2018 erschienen ist. Das Album ist die Verkörperung ihres Selbst. Das persönlichste und ehrlichste Werk, was die Grande Dame des Blues je geschrieben und veröffentlicht hat. Ohne sich zu verstecken und nervös nach Tatsachen und Vernunft zu suchen. Sie gibt sich und auch ihr Herz frei.
Das Label sagt über das Album, dass es „ein Werk voller brutaler Ehrlichkeit, Authentizität und autobiographische Reflektion über den Verlust alter Freunde, über die Liebe und die Einsamkeit in ihrer Wahlheimat Paris ist.“
Das eigene Zuhause ist privat und gibt die Persönlichkeit sowie das Herz des darin wohnenden preis. Somit kann das einundzwanzigste Studioalbum der Singer- und Songwriterin als ihr persönlichstes Werk begründet werden. Das Covershooting fand in ihrer Wohnung statt. In einem Zuhause, welches ihr Leben nicht näher beschreiben könnte: DER Galerie ihres Lebens!
Die in Paris ansässige Grand Dame ist sehr belesen. Zumal sie es in einem Video-Interview in ihrer Wohnung auch zeigte. Die eine Hälfte des Bettes war mit Büchern zugedeckt. Zu erkennen ist ihre Belesenheit u.a. auch an ihrer Lyrik. Denn die Leadsingle zu „The Gypsy Faerie Queen“ wurde von Shakespeares „Sommernachtstraum“ inspiriert. Dieses Stück wurde zusammen mit Nick Cave aufgenommen. „The Gypsy Faerie Queen“ ist wunderschön und lethargisch zugleich, herbeigeführt durch Mariannes fesselndem Gesang und der dazu eingesetzten Instrumente. Sie lächelt in dem Video in die Kamera und die Zigeuner-Feen-Königin tanzt zu dem herzzerreißenden Song.
„Misunderstanding“ bildet den Gegenpart zu „Sister Morphine“ aus dem Jahre 1965. Das Lied beschreibt die fehlende und wünschenswerte Liebe. Das tieftraurige „No Moon in Paris“ handelt von Einsamkeit. In „Don’t Go“ wird der Verlust ihres Live-Gitarristen Martin Stone deutlich.
Ein weiterer Verlust, den sie durch einen Song verarbeitet ist in „Born To Live“ zu hören. Dieser schmerzliche Song ist für Anita Pallenberg gedacht, die im Jahre 2017 verstarb. Marianne Faithfull schrieb rührende Worte zu ihrer besten Freundin auf Facebook und Instagram. Sie war eben ihre beste Freundin, die sie sehr liebte! In „Born To Live“ lässt sie uns den Verlust spüren und in der dazugehörigen Videoauskopplung sind bewegende Bilder aus gemeinsamen Zeiten sowie private Videoaufnahmen der beiden Freundinnen zu sehen.
Das Massaker im Bataclan Theater von 2015 war eine terrorgetränkte Tragödie, die nie wieder wiederholt werden darf. Umso mehr ist „They Come At Night“ aufwühlend, welches durch die eingesetzten Instrumente verstärkt werden. Man muss schon sehr abgestumpft sein, um die Message nicht zu begreifen. In diesem Song ist alles auf den Punkt gebracht. Hier hört man die gesangliche Trauer sowie die musikalische Wut. Ein Jahr danach sang Marianne Faithfull an diesem tragischen Ort. Ihr Statement war dazu: ein Zeichen gegen die Angst zu setzen.
Obwohl Marianne Faithfull zuerst dagegen war, wurde der Klassiker „As Tears Go By“ erneut aufgenommen. Anstatt der einstigen glasklaren Stimme von 1964, lauscht man nun ihrer aktuellen, rauchigen und larmoyanten Whiskeystimme. Von dem Zauber des Liedes schwindet nach wie vor nichts. Der Song musste auf das Album, denn ihre Rolling-Stones-Musenvergangenheit kann sie nicht auslöschen. Jene Vergangenheit ist eine Legende. Denn dadurch begann ihre Tragödie und ihre Geschichte, die sie aber bis heute meisterte. Dieses Album ist der Beweis, dass sie dennoch stark und kraftvoll ist, trotz ihrer Schmerzen. Sie legte all ihre Liebe in diesen Tonspeicher, der auf ewig archiviert und gespielt wird.
„Negative Capability“ ist ein atemberaubendes, herzzerreißendes, melancholisches Werk mit dem Prädikat: Sehr wertvoll! Dieses Album ist ein musikalischer Schatz, mit dem sie sich selbst übertroffen hat.
Eine tiefe Verbeugung gilt auch den kostbaren Kollegen, die Marianne Faithfull mit diesem Schatz unterstützten: die Produzenten Rob Ellis und Waren Ellis (beide nicht verwandt) sowie die Virtuosen Ed Harcourt, Mark Lanegan und Nick Cave. Durch diese tatkräftige Unterstützung wurde die melancholische Stimmung des Albums geschaffen, die dieses Album bewirken sollte. Einsamkeit und Verlust, Schmerzen und Wehmut, Zuversicht, Euphorie und Freude am Leben. Dankeschön!
*** Mir wird stets flau im Magen, wenn ich daran denke, dass dieses Meisterwerk ihr letztes Studioalbum sein könnte. (So war es auch bei David Bowie.) Seit knapp zwei Jahrzehnten bin ich Fan von ihr. Die komplette Diskographie sowie weitere Alben und Bücher hüte ich wie einen Schatz. Marianne Faithfull ist „mein“ Inbegriff von Stärke sowie ist sie „meine“ Soldatin des Lebens. Darum berührt es mich zutiefst, auch nach zwei Jahre der Veröffentlichung, dass dieses Album so zeitlos ist und weiterhin Tränchen in meine Augen treibt.
„Negative Capability“ – ihr persönlichstes Werk und durchaus das schmerzlichste in meiner Sammlung, neben David Bowies „Blackstar“.
Es ist leider so, und damit muss ich mich abfinden, dass sie eines Tages der Zigeuner-Feen-Königin folgen wird, die sie tanzend und strahlend ins Licht führt. Sicher bin ich mir, dass sie dazu auch eine Krone aus Vogelbeeren trägt und ihr Krückstock zum Schwarzdornenstab wird, der ihr beim Gehen hilft und Anita Pallenberg empfängt sie, wie all ihre Freunde, die sie verloren hat.